Liebe ehemalige Mathelehrerin der Orientierungsstufe,
vielleicht erinnern
Sie sich noch an mich. Ich war während der Orientierungsstufen-Zeit in ihrer Mathe-Klasse. Zu Beginn habe ich mich noch angestrengt,
denn ich wollte gerne auf das Gymnasium. Alle meine Noten waren passend dafür,
ich war gut in der Schule und hatte Spaß. In Mathe war ich durchschnittlich,
aber ich kam gut mit, eben weil es mir Spaß machte.
Bis ich in Ihren Grundkurs
kam.
Es begann damit, dass ich einmal meine Mathe-Hausaufgaben sehr schlampig
zwischen Tür und Angeln machen musste, weil meine Eltern zuhause gerade das Haus
umbauten und meine Mutter meine Hilfe verlangte, wie so oft. Meine Eltern
halfen mir seit der zweiten Klasse nicht mehr bei den Hausaufgaben, weil sie es
nicht konnten. Sie hatten beide die Hauptschule besucht, dazu kam eine
Lese-und-Rechtschreibschwäche. Darüber hinaus hatten beide mehr schlecht als Recht ihre
Ausbildungen beendet. Da war nicht viel Unterstützung zu erwarten. Jedenfalls waren an jenem Tag meine Hausaufgaben unsauber
und fehlerhaft, das wusste ich.
Dummerweise
sammelten Sie ausgerechnet da mein Heft zur Kontrolle ein, Sie kündigten ja nie
an wer als nächster dran war. Sie sammelten immer zwei Hefte ein und dann
wurden die Aufgaben Reihe um besprochen, während Sie kontrollierten.
Anschließend gaben Sie die Hefte immer mit einem mehr oder weniger nützlichen
oder vermeintlich witzigen Kommentar an die Schüler zurück. An diesem Tag war
ich dran: Ich bekam eine Standpauke, natürlich vor der ganzen Klasse, und sie
fragten mich, ob ich meine Hausaufgaben „auf dem Klo“ gemacht hatte, denn es sei ja "alles falsch". Alle
lachten, das hatte gesessen. Dann schossen sie nach „so wird das nichts mit dem
Gymnasium“, alles in diesem abwertenden Ton, den ich von Ihnen so gut kannte. Ein
Zurückblättern in meinem Heft hätte Ihnen offenbart, dass meine bisherigen
Hausaufgaben immer einwandfrei waren, nur eben an diesem Tag nicht, wo sie
dummerweise mich auserwählten.
Den Rest der Stunde
konnte ich kaum zuhören, ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Mir war
die „Leistung“ peinlich und noch peinlicher war mir das Vorführen vor der
ganzen Klasse. Alle hatten gelacht und Sie fanden sich dabei sehr witzig. Heute
als Erwachsene weiss ich, dass Sie den Fehler gemacht haben. Damals war
ich aber eingeschüchtert und durch die sehr autoritäre Erziehung meiner Eltern wäre
ich nie auf die Idee gekommen zu sagen „Bitte blättern Sie um, so arbeite ich
sonst nicht“. Ihnen wäre es vermutlich auch egal gewesen. Die Odyssee nahm aber
jetzt erst ihren Lauf, denn Sie hatten mich nun auf dem „Kieker“.
In nahezu
jeder Stunde holten Sie mich an die Tafel. Wenn ich Fehler machte, hackten Sie
auf mir herum, führten mich vor und Sie hatten ein Gespür dafür entwickelt,
wann ich unsicher war. Denn dann war ich garantiert dran. Ich verinnerlichte: Ich bin schlecht in Mathe. Ich kann das nicht. Ich ging mit Angst zu Ihren Mathestunden. Ich strengte mich auch irgendwann nicht mehr an.
Ich startete in ihrem
Grundkurs mit einer 2, dann wurde daraus ein 3 und zum Ende hin sogar eine 4. Bei
der Zeugniskonferenz, als es dann um die Versetzung auf eine weiterführende
Schule ging, setzten Sie sich dafür ein, dass ich keine Gymnasiumempfehlung
bekam, sondern Real+, obwohl alle anderen Zeugnis-Noten im 2er-Bereich waren.
Es gab die Möglichkeit eines Elterngesprächs zum Halbjahr. Meine Mutter fragte sich,
warum meine Mathenote so abrutschte und wollte Sie als meine Lehrerin fragen,
was da los war. Ich begleitete meine Mutter, denn erzählt hatte ich zuhause
nichts. Immerhin waren für meine Eltern Lehrer unantastbar. Eine Erklärung
hatten Sie aber nicht für mein Leistungstief, klar, denn dafür hätten Sie sich
und Ihre Art mit Kindern umzugehen ja reflektieren müssen. Sie sagten mir nur „du
wirst auf dem Gymnasium nicht zurecht kommen ohne Mathe, Abitur kannste so
vergessen, dass wird nichts“. In diesem Moment wusste ich, hier ging es um
etwas anderes. In Ihren Augen sah ich, dass Sie nichts von mir hielten. Und dass
Leute wie ich, die aus einer bildungsfernen Schicht kamen, auf dem Gymnasium
nichts zu suchen hatten. Das hatte nichts mit mir zu tun, sie hatten mich als
Opfer einfach auserwählt.
Ich war nicht schlecht in Mathe, weil ich es nicht
konnte, sondern weil Sie mir den Spaß verdorben hatten. Das ewige Vorführen und
der ständige Druck, den ich spürte, das rechtfertigten Sie
damit, dass das ja auf dem Gymnasium auch so sei.
Als die Versetzung zur
weiterführende Schule zuhause Thema war und meine Eltern sich die Köpfe heiß
redeten, begann offiziell die Rebellion gegen meine Eltern. Ich sagte: „Ich
gehe aufs Gymnasium! Ich kann das und ich weiß das! Das ist mein Leben und ich
lasse mir das nicht von einer doofen Kuh verbauen, die mich einfach nur nicht
leiden kann.“
Meine Eltern ließen
mich also nach der sechsten Klasse aufs Gymnasium gehen. Den Spaß an Mathe fand
ich nie wieder, aber ich machte gern Physik und später im Studium Statistik. Denn
ja, ich habe Abitur gemacht, ohne Mathe, und mit einem Durchschnitt von
2,6. Ich war die erste in meiner Familie
mit Abitur und bin bislang auch die einzige, die ein Studium absolviert hat.
In your face, Mathelehrerin!
(Abitur 2004, Orientierungsstufe 1995-1996)
Abschließend möchte ich sagen: Man kann Spaß in der Schule haben, auch wenn man nicht permanent 1er mit nach Hause bringt. Und nur, weil man vielleicht eine 4 oder 5 in einer Klausur bekommen hat, zeigt das nicht unbedingt, dass man „schlecht in Mathe“ ist. Die Noten werden so sehr in den Vordergrund gestellt, dass die wichtigen Dinge völlig vergessen werden: Spaß am Lernen. Spaß am Leben. Spaß am Kind-sein.
Über das "Können" sagen Noten überhaupt nichts aus, denn es können
auch äußere Umstände zu einer schlechten Note führen. Warum gibt es Kinder mit
Burn-Out? Weil Sie permanent Druck erfahren und hohe Erwartungen erfüllen
müssen. Und kein Lehrer kann mir erzählen, dass er alle Schüler gleich
behandelt. Jeder hat Personen in seiner Klasse, die er nicht mag. Dabei fair zu
bleiben, ist wohl die größte Herausforderung für Lehrer.
Meine Kinder werde ich auf eine Freie Schule schicken, ohne
Noten. Denn von meinen Kindern weiss ich jetzt schon, sie sind gut so, wie sie
sind. Ob mit oder ohne Mathebegabung.